Das Märchen der Märchen (2015) (2024)

Eine Königin (Salma Hayek) mit einem Kinderwunsch, der nur dann erfüllt werden kann, wenn ihr Gemahl (John C. Reilly) ihr das Herz eines Seeungeheuers bringt; zwei alte Frauen, die das Geheimnis ewiger Jugend für sich entdecken und damit einen liebestollen Regenten (Vincent Cassel) und ein König (Toby Jones) mit einem ungewöhnlichen Haustier, das ihn auf leichtsinnige Gedanken bringt: Das sind die drei Geschichten, die Matteo Garrone in seinem neuen Werk Das Märchen der Märchen zu einem Bilderteppich zusammenknüpft, der auf den ersten Blick in der Tradition von Pier Paolo Pasonlinis Trilogie des Lebens und Terry Gilliams‘ Phantasie- (oder Fantasy-)Welten zu stehen scheint.

Diese beiden Gewährsmänner deuten bereits an, dass sich das neue Werk des süditalienischen Regisseurs trotz seiner märchenhaften Herkunft – einige Geschichten des neapolitanischen Märchensammlers Giambattista Basile (1575-1632) standen hier Pate — eher an ein erwachsenes Publikum und nicht an Kinder wendet. Dass nicht nur Kinder Märchen brauchen (so zumindest ein Buchtitel von Bruno Bettlheim), sondern dass diese bei aller Zeitlosigkeit auch heutzutage von brennender Aktualität sein können. Dies hat ja gerade der Portugiese Miguel Gomes mit seinem Triptychon Arabian Nights bewiesen. Dessen am Sozialrealismus geschärfter Vergegenwärtigung ins heutige krisengeschüttelte Portugal setzt Garrone einen Blick entgegen, der zwar nicht historisierend, aber dennoch erst auf den zweiten Blick zeitdiagnostisch ist. Denn tatsächlich ist die auf der Bildebene und bei den sorgfältig ausgeklügelten Arrangements und Tableaus deutlich spürbare Stilisierung und Künstlichkeit eines der verbindenden Themen der nur scheinbar wahllos ausgewählten Episoden. Und betrachtet man die angeschnittenen Sujets unerfüllter Kinderwunsch, Sexsucht und die Suche nach ewiger Jugend sowie die etwas isoliert erscheinende Geschichte des Riesenflohs, die sich einer eindeutigen Interpretation zunächst verschließt, dann fällt einem auf, wie ganz und gar gegenwärtig sich diese Themen lesen lassen: Als universell gültige Parabel auf die Sehnsüchte der Menschen, ihre Leidenschaften und den Preis, den sie dafür manchmal bereit sind zu zahlen. Und als Darstellung des ewigen Kampfes zwischen Natur / Natürlichkeit gegen die bisweilen fragwürdigen Hervorbringungen der Kultur und der Künstlichkeit. Eine — wenn man so will — recht wertkonservative Moral.
Die implizite Behauptung des Titels, gewissermaßen ein Meta-Märchen zu sein, erscheint bei genauerer Betrachtung dann doch ein wenig vermessen und legt vor allem den Schluss nahe, dass Garrone damit eine Verneigung vor Giambattista Basile als Europas erstem Märchensammler und -erzähler meint.

Immer wieder gelingen Garrone in seinen tolldreisten Geschichten rauschhafte Bilder voller magischer Schönheit: Wenn die verzweifelte Königin in einem steril-weißen Raum das Herz des Monsters verschlingt, verrät allein die Bildkomposition den Wahn einer vom eigenen Kinderwunsch besessenen Frau. Auch der verzweifelt-demonstrative Gang einer der beiden Schwestern in die Stadt hinein, die beinahe an einen Spaghetti-Western erinnert, ist einer jener Momente, die das Herz eines jeden Cineasten schneller schlagen lassen.
Andererseits aber übertreibt es der Film an anderen Stellen mit seinem Willen zur Stilisierung und Künstlichkeit: Das Seemonster und der Floh entsprechen nicht dem, was man sich von Geschöpfen wie diesen erwarten dürfte. Sie wirken nicht furchteinflößend, sondern beinahe schon niedlich. An manch anderen Stellen, an denen die derbe Komik der Spätrenaissance im Mittelpunkt steht, bewirkt Garrones Stilwillen eine fühlbare Dämpfung jener Wucht, die Das Märchen der Märchen hätte erreichen können.

Statt des harschen Naturalismus des Mafia-Dramas Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra und des überhöhten Realismus seines sträflich übersehenen Big Brother-Farce Reality legt Matteo Garrone mit seinem neuen Werk erneut einen Stilwechsel hin und taucht tief in die Welt der Mythen und Märchen seiner süditalienischen neapolitanischen Heimat ein. Was die Filme aber bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist das Territorium dem sie entstammen. Wenn man so will, bildet jeder bisherige Garrone Filme einen weiteren Baustein einer Kulturgeschichte der Region Süditalien. Aus dieser Sicht heraus ist dieser Regisseur immer noch in erster Linie (und in einem sehr modernen Sinne) ein Heimatfilmer – und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein neues Werk mit internationalen Stars und in englischer Sprache gedreht wurde.

Die Geisteshaltungen und Landschaften Süditaliens, bei denen dem Castel del Monte eine zentrale Bedeutung zukommt, spürt und sieht man in einigen Szenen. Dennoch bewirkt seine Hinwendung zur Fantastik und zur damit verbundenen Stilisierung einen Irritationsmoment, weil Garrones Schärfe hier nie konkret zu Tage tritt; weil sein deutlich durchschimmernder Wille zur Unterhaltung und zur reinen Form die Substanz seiner bisherigen Filme ein wenig missen lässt. Zugänglicher und international vermarktbarer ist er damit auf jeden Fall geworden. Aber eben auch ein wenig ununterscheidbarer.

(Joachim Kurz)
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Matteo Garrone (Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra) würde man nicht unbedingt sofort mit Märchenverfilmungen assoziieren. Umso interessanter scheint die Idee, dass ein Regisseur, der sich eigentlich mit gesellschaftskritischen Filmen einen Namen gemacht hat, jetzt Märchen verfilmt.

Natürlich wäre es möglich, diese überlieferten Geschichten zu modernisieren und/oder auch zum Zwecke einer Kritik oder Analyse der Gesellschaft zu nutzen, aber es scheint, Garrone hatte einfach mal Lust, einen pompösen, bunten Film zu machen und einfach Spaß zu haben. Und Spaß hatte er bestimmt, doch leider hat er dabei vergessen, wie man Geschichten ineinander verwebt und gekonnt erzählt.

Doch vor der Kritik erst einmal eine kleine Inhaltsangabe. Das Märchen der Märchen ist eigentlich drei Geschichten in einer. Alle wurden inspiriert von den Erzählungen Giambattista Basiles, einem neapolitanischen Schriftsteller und Hofpoeten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts.

1) Die verbitterte Königin von Longtrellis (Salma Hayek) will unbedingt ein Kind, wird aber nicht schwanger. Eines Tages taucht ein eigenartiger Mann auf, der ihr und dem König (John C. Reilly) rät, ein Seeungeheuer zu töten, sein Herz von einer Jungfrau kochen zu lassen und es zu essen. Beim Töten des Monsters kommt der König ums Leben, der Zauber funktioniert jedoch. Mit der kleinen Ausnahme, dass die Jungfrau, die das Herz kocht ebenfalls schwanger wird und beide Frauen baugleiche Jungen austragen. 16 Jahre später ist der junge Prinz nur daran interessiert mit seinem Zwillingsbruder zu verkehren – ein Fakt, der die Königin zur Weißglut und alsbald zu Mordplänen veranlasst.

2) Der promiske König Strongcliff (Vincent Cassel) hört eine Frau singen und verliebt sich in ihre Stimme. Er nimmt an, es handle sich um ein junges, schönes Mädchen und er will es haben. Doch die Frau ist eine alte, hässliche, die mit ihrer ebenfalls alten Schwester in einer Hütte wohnt. Die Schwester wittert Ruhm und Reichtum, als der König an der Tür klopft und verbringt eine Nacht mit ihm. Ihre einzige Bedingung: kein Licht. Als der König am nächsten Morgen die alte Frau entdeckt, wirft er sie aus dem Fenster. Sie landet im Wald wo eine Hexe sie in eine junge, schöne Frau verwandelt, die dem König dann doch sehr gefällt.

3) Der König von Highhills (Toby Jones) ist verrückt nach einem riesigen Floh, den er täglich füttert. Seine einzige Tochter beachtet er eher nicht. Als der Floh stirbt, lässt er ihn häuten und lädt jeden im Land ein zu raten von welchem Tier die Haut stammt. Niemand errät es. Außer ein Oger. Fortan ist die Prinzessin gezwungen mit einem Oger in seiner Höhle zu hausen.

Grundsätzlich bieten alle drei Geschichten die Möglichkeit für viel Unterhaltung. Ihre grotesken Grunderzählungen gepaart mit gothischen Motiven sind wie eine buntere und etwas absurdere Version von Game of Thrones. Das ist erfrischend eigenartig und interessant. Leider nur am Anfang. Denn Garrone inszeniert sie in einer derart gelangweilten Art, dass man schon bald selbst kein Interesse mehr verspürt. Da hilft es auch nicht, dass die Bilder pompös und in fantastischen Farben inszeniert sind.

Die drei Erzählstränge wechseln recht belanglos hin und her, sind dazu noch schlampig montiert, ein roter Faden will sich nicht erkennen lassen. Und wenn man schon fast aufgegeben hat, so schwingt sich der Film dann doch für einen Augenblick auf und spendiert mal eine Sequenz hier, dann eine da, die wundervoll ist und die einen völlig gefangen nimmt, nur um dann sofort wieder abzuschlaffen und einzuschlafen. Ach, dieser Film ist dadurch mehr Frust als Vergnügen, denn man sieht hier und da, wie gut und wundervoll er hätte werden können! Was ist nur schief gegangen? Doch noch bevor man darauf eine Antwort hat, endet der Film. Abrupt, ohne Katharsis und ohne seine Geschichten so recht zu Ende zu erzählen.

(Festivalkritik Cannes 2015 von Beatrice Behn)

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