Kritik zu Das Märchen der Märchen (2024)

Drei Königreiche in unmittelbarer Nachbarschaft, drei Herrscherhäuser, die sich gegenseitig zu Hochzeiten und Beerdigungen besuchen und doch von ganz unterschiedlichen Schicksalen geprägt sind, eines wilder als das andere – von ihnen erzählt Matteo Garrone in seiner freien Adaption von neapolitanischen Märchen, die Giambattista Basile 1634/36 im »Pentamerone« veröffentlichte. Obwohl manches Motiv uns aus der Grimm’schen Tradition bekannt scheint, betreten wir im Märchen der Märchen eine Welt eigener Prägung, eine italienische Szenerie mit Burgen und Dörfern aus hellem Stein und Barockdekor, mit Geschichten belebt, die ungeahnte Wendungen nehmen.

Nach seinem Mafia-Drama »Gomorrha« und dem Identitätsspiel »Reality« macht Matteo Garrone mit dieser internationalen Koproduktion mit Starbesetzung, seinem ersten auf Englisch gedrehten Werk, einen weiten thematischen Sprung. Doch er bewältigt ihn mit derselben Tugend, die seine vorherigen Filme auszeichnete: Trotz aller magischen Ingredienzen erzählt er mit dem Blick des Realisten. So hält er erfrischende Distanz zu Hollywood-Fantasy und Disney-Nettigkeit. Der Tonfall ist unaufgeregt, beobachtend, bisweilen von einer sanften Entrücktheit, dann wieder rütteln groteske Bilder und tiefschwarzer Humor auf. Ein Happy End sollte man besser nicht erwarten.

Nicht nacheinander, sondern immer wieder alternierend entfaltet das Drehbuch die drei Geschichten, zwischen denen sich nur wenige Berührungspunkte ergeben. Ein Königspaar, das noch ohne Erben ist, lässt sich auf einen Fruchtbarkeitszauber ein: Das Herz eines Seeungeheuers soll von einer Jungfrau gekocht und dann von der Königin verspeist werden, sofortige Schwangerschaft garantiert. Doch nicht nur die Königin kommt nieder, sondern auch die jungfräuliche Magd. So wachsen weißhaarige Zwillinge von zwei verschiedenen Müttern heran. Der eifersüchtigen Königin ist deren enge Bindung jedoch ein Dorn im Auge, und sie vertreibt den Sohn der Magd, nicht ahnend, was sie damit heraufbeschwört. In der zweiten Geschichte vernachlässigt ein König seine Tochter, da er sich lieber einem talentierten Floh widmet, den er zunächst mit seinem Blut, dann, als dessen Appetit mit seinem Körper wächst, mit rohen Steaks nährt. Die Verheiratung seiner Tochter gerät dem desinteressierten Monarchen zum Desaster. Die verzweifelte Prinzessin vegetiert schließlich in der Höhle eines »Oger« dahin – der ist nicht sehr grün, nicht sehr sympathisch, weniger Shrek denn hünenhafter Menschenfresser. Doch das letzte Wort wird der Prinzessin gehören. Der dritte König, ein manischer Schürzenjäger, vernimmt eines Morgens in noch trunkenem Zustand lieblichen Gesang. Er setzt sich in den Kopf, die Frau mit der zauberhaften Stimme zu erobern, nicht ahnend, dass sie alt und hässlich ist. Sie gibt schließlich dem Werben des mächtigen Mannes nach, unter der Bedingung, ihn bei völliger Dunkelheit zu treffen. Es wird eine Liebesnacht mit weitreichenden Folgen für den König, die Frau und ihre Schwester. Einen Überfluss bizarrer Bilder bergen diese Geschichten, wunderbar fotografiert von David Cronenbergs Stammkameramann Peter Suschitzky und elegant verknüpft durch den ebenso farbenreichen Score von Alexandre Desplat. Eine Unterwasserlandschaft, in der in altertümlicher Tauchermontur König John C. Reilly ein schlafendes Seeungeheuer erlegt; die melancholische Königin Salma Hayek, die am riesigen roten Herzen des Monsters nagt; die Liebkosungen, die Toby Jones als verschrobener Herrscher seinem Floh angedeihen lässt, der zur Größe eines Schweins herangewachsen ist; magische Verwandlungen von alt zu jung und umgekehrt sowie eine archaische »Schönheitsoperation« oder das Sprudeln einer blutigen Quelle aus einer Baumwurzel – all das ist eindringlich in Szene gesetzt und wirkt doch kaum plakativ, die Extreme erwachsen ganz organisch aus dem Fluss der Erzählung. Klar und rätselhaft wie die Bilder in Träumen fügt sich ein Motiv zum anderen. Mühelos wirkt das nicht zuletzt durch die Konstruktion: Das Pendeln zwischen den in sich linear gehaltenen Märchen suggeriert die Gleichzeitigkeit höchst wunderlicher Ereignisse in dieser erzählten Welt, in die der Film eintaucht, als habe sie schon immer existiert und lebe nach dem Film weiter. So erscheinen das Magische und Surreale umso mehr als selbstverständlich, ja »realistisch«. Nur in ganz wenigen Momenten wird die Glaubwürdigkeit angekratzt durch nicht ganz überzeugende CGI-Effekte, in denen sich dann doch eine Künstlichkeit aufdrängt.

Kritik zu Das Märchen der Märchen (3)

© Concorde

Als Reigen menschlicher Begierden und Torheiten erinnert »Das Märchen der Märchen« an Pier Paolo Pasolinis »Trilogie des Lebens«, in seiner visuellen Fantasie und seinem Humor an einen Terry Gilliam ohne Konzentrationsschwäche. Klugerweise vermeidet Garrone dabei eine didaktische Stoßrichtung, die »Moral von der Geschicht’«. Die Figuren bleiben ambivalent, und so mag man sich bisweilen fragen, was uns das Werk eigentlich erzählen will. Das scheinbar Ungefähre, in dem sich vertraute Motive und Symbole so spielerisch vereinen, weist aber klare, durchaus aktuelle Themen auf. Die Willkür der Mächtigen spielt in allen Episoden eine tragende Rolle, die Besessenheit von Schönheit und Jugend führt in Abgründe. Da ist Vincent Cassels lustvoll gespielter Erotomane noch am vergnüglichsten: Schon der Anblick faltiger Frauenhaut löst bei ihm Panikattacken aus. Bemerkenswert ist auch, dass die Frauenfiguren im Zentrum stehen und vielschichtiger als die Männer gezeichnet sind, berührend etwa in Bebe Caves Darstellung der ungeliebten Prinzessin.

Kritik zu Das Märchen der Märchen (2024)

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